"Das Wetter findet draußen statt", sagte gestern eine Einheimische in Pontresina angesichts des gestrigen Wetterberichts. Was soviel heißen soll wie: "Lasst euch nicht verrückt machen, wenn die Regen ansagen. Es wird meistens besser als angesagt." Heute morgen stellen wir fest: sie hatte recht. In der Nacht hat es geregnet, ein paar hundert Höhenmeter weiter oben sogar geschneit, aber die Straßen sind trocken, und man meint sogar, dass die Sonne rauskommen könnte. Der Respekt ist hoch vor der heutigen Etappe, was eher weniger am zunächst auf dem Speisezettel liegenden Berninapass liegt, sondern an einer Legende des Giro d'Italia. Der gefürchteten Westauffahrt von Mazzo zum Passo di Mortirolo.
Der Bernina ist ein Rollerberg. Dennoch wird uns glücklicherweise warm in der Auffahrt, denn die Temperaturen sind im einstelligen Bereich und sinken mit jedem Höhenmeter. Fast geht in den tief hängenden Wolken unter, dass der Bernina eigentlich ein sehr schöner Pass ist, sehr hochalpin und mit schönen Blicken auf Gletscher und Berggipfel. 14 Kilometer bergauf mit schlappen 500 Höhenmetern. Wir sind der Bernina-Express Oben wird alles angezogen, was die Trikottaschen hergeben, und dann stürzen wir uns in die - ebenfalls sehr schöne - Abfahrt hinunter nach Tirano. Wobei uns eigentlich nur der echte Bernina-Express (also der Zug) ein wenig aufhalten kann. Ruckzuuck sind wir unten, und kurz vor Ende der Abfahrt überqueren wir dann auch die Grenze nach Italien.
In Tirano stehen bereits die sportive und die ausdauernde Gruppe auf dem Parkplatz, die entspannten sind auch schon teilweise da. Nur Sylvia feht noch, aber wir haben sie heute auch vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. da wir ja fast nur Abfahrt hatten, wo wir ähnliches Tempo fahren konnten wie sie mit dem Verpflegungscruiser. Und kaum ist sie dann aus dem Cruiser gesprungen und macht sich ans Waschen der Tomaten. Hilfe wird rigoros abgelehnt, zaghafte Versuche im Keim erstickt ("Nein, die süßen Sachen gehören da drüben hin." Ein Hoch auf Sylvia!
Dann naht die Stunde der Wahrheit. Etwa acht Kilometer flach bis wellig, "Mortirolo-Warmup", wie jemand aus meiner Gruppe es bezeichnet. Und dann biegen wir rechts auf die Passstraße ab, und es gibt kein Zurück mehr. Zumindest wenn man nicht mehr umdrehen will. Was natürlich keiner will. Die Auffahrt beginnt trügerisch. Es ist zwar steil, aber noch nicht so mörderisch steil, immer wieder auch mal flachere Passagen. Man kann nicht verhindern, dass sich Gedanken im Kopf breit machen wie "Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm". Aber das Mittelstück kennt kein Erbarmen. Keine Ahnung, wie steil es hier wirklich ist, aber das ist ja auch nebensächlich, denn wir müssen so oder so hier rauf. Nur das 10-Prozent-Schild am absolut steilsten Stück der gesamten Auffahrt wirkt so, als wolle es uns verhöhnen. 10 Prozent? WOLLEN DIE UNS VERARSCHEN?
Seis drum, weiterquetschen. Immer in der Hoffnung auf die zweite Hälfte des Passes, wo es laut Höhenprofil etwas angenehmer wird. Wie sehr man sich doch über 12 Prozent Steigung freuen kann. Die traumhafte schmale Straße ohne jeden Verkehr und die immer wieder aus dem Wald aufblitzende tolle Aussicht hinab ins Veltlin lässt sich da kaum würdigen. Doch wir zählen die nummerierten Kehren herunter. Bei etwa der Hälfte des Anstieges erreichen wir die 21 – In your face, Alpe d'Huez! Bis es schließlich auf den letzten zwei Kilometern immer alpiner wird, die Kühe uns zwar mitleidig anblicken, aber trotzdem zur Anfeuerung ihre Glocken läuten, und irgendwann dann auch die letzte Rampe an der Passhöhe endet. Und ich glücklicher kaum sein kann, hatte ich angesichts meines waschlappigen Totaleinbruchs am Albula gestern noch das schlimmste befürchtet. Überraschenderweise ist sich die Gruppe erstaunlich einig: So schlimm wie befürchtet war es gar nicht.
Am meisten weh tun dann die folgenden 50 Höhenmeter, die wir auf der Höhenstraße zurücklegen müssen. Leider umwabern uns hier ein paar Wolkenschwaden, so dass uns die richtig tollen Ausblicke verwehrt bleiben. Doch als dann in der nächsten Welle hinten "kürzer" gerufen wird, bleiben dann sowieso alle stehen, denn die Wolkendecke reißt auf und offenbart uns einen Tiefblick hinunter ins Tal. Kommentar: "Ach so, deswegen hast du das die Geile Höhenstraße genannt." Je nach Tempo tun die zwei noch folgenden Hügelchen auf der Höhenstraße über den Passo di Guspessa dann noch richtig weh, aber kaum jemand fährt noch volles Tempo. Ist auch nicht mehr nötig - wir genießen die letzten Kilometer, dann die Abfahrt vom Passo di Trivigno hinab nach Aprica.
Wo Sylvia über uns selbst hinaus wächst und schon die übrig gebliebenen Leckereien vom Mittagsbuffet für uns aufgebaut hat. Ein Hoch auf Sylvia!
Zum Schluss gehen noch die Grüße des Tages an Malin und Ani – vielleicht bekommt ihr ja heute Abend nicht meinen viel zu langen Bericht als Gutenachtgeschichte serviert.
Ursprüngliche Etappenbeschreibung:
Am zweiten Tag überschreiten wir nach dem Berninapass die Grenze nach Italien. Am Passo del Mortirolo sind dann gute Beine gefragt, bevor es über eine Höhenstraße ins Tagesziel Aprica geht.
Der Berninapass ist zwar 2330 m hoch, aber wir starten ja in Pontresina auch schon auf 1800 m, so dass sich dieser Anstieg gleich relativiert. Es ist größtenteils ein Rollerberg, so dass es uns leicht fallen sollte, uns lieber an der hochalpinen Landschaft zu erfreuen, als unnötig viele Körner zu verballern, die wir vielleicht am Mortirolo noch bräuchten. Die Abfahrt vom Bernina ins Veltlin ist lang, und erst kurz vor deren Ende überschreiten wir die Grenze nach Italien. Hier fahren wir ein Stück das Veltlin aufwärts, wollen wir den Mortirolo doch auf der berühmt-berüchtigten Auffahrt von Mazzo erklimmen, die selbst die Giro-Profis zu niedrigeren Übersetzungen verleitet. Es wird steil, keine Frage. Dafür lockt die herrliche einsame Kammstraße, die von der Mortirolo-Passhöhe über Guspessa und Trivigno nach Süden führt. Die Etappe endet in Aprica.
Option: Die Höhenstraße kann man am Mortirolo auch zunächst in nordöstlicher Richtung fahren bis zum Col Carette die Val Bighera. Die Etappe summiert sich dann auf 112 km und 2800 Hm.